Ute Giesen

Ich bin jetzt hier!

Wie der Maulwurf Weihnachten feiert

Aus dem noch nicht veröffentlichten Buch: Geschichten aus dem Wacholderbusch. Illustrationen von der grandiosen Steffie!

Wie der Maulwurf Weihnachten feiert

Die erste Begegnung

Im Land der Wiesen, bei den tausend Hügeln lebt ein geheimnisvoller Geselle mit großen, kräftigen Pranken und einem kleinen Stummelschwanz. Sein Fell ist unbeschreiblich weich und fein, weicher  als die flauschigste Wolle und feiner als die feinste Seide.

Die winzigen Augen liegen tief im Fell versteckt, er kann kaum sehen. Nur Hell und Dunkel kann er unterscheiden. Dafür sind seine Nase und  sein Gehör sehr fein. Das ist auch nicht verwunderlich, denn er lebt, wo nie die Sonne scheint: Unter der Erde. Ihr wisst sicher längst, ich spreche vom Maulwurf.
Die wenigsten von Euch werden ihn schon mal zu Gesicht bekommen, geschweige denn ein Wort mit ihm gewechselt haben. Kein Wunder -er hält sich ja auch am liebsten (mit Erde) bedeckt.
An einem bitterkalten, klarem Wintertag saß ich mit einer Tasse heißem Kirschwurzeltee und einer dicken Wolldecke um die Beine geschlungen auf der alten Holzbank im Garten und genoß eingemummelt die letzten Sonnenstrahlen. Die Amseln suchten in der mit Rauhreif überzogenen Wiese nach letzten Regenwürmern. Es würde bald Schnee geben, dann wäre die Futtersuche noch schwieriger und der Winter kann sehr lang werden. Auf einmal entstand in dem Beet zu meinen Füßen ein Tumult… eine Amsel zog mit aller Kraft an einem richtig dicken Regenwurm. Der ließ sich aber gar nicht aus der Erde ziehen, und die Amsel schimpfte in der ihr typischen Art laut und empört. Eine zweite Amsel kam hinzu und eine dritte und mit aller Kraft zogen sie an dem Wurm. Plötzlich gab die Erde nach. Die Amseln purzelten wild durcheinander, der Wurm flog in hohem Bogen durch die Luft und mit ihm – der Maulwurf! Er hatte den Leckerbissen unter der Erde entdeckt und  am anderen Ende des Wurms gezogen. Vor Schreck ließ er den Wurm los, aber es war zu spät. Nach mehreren Drehungen in der Luft landete der lichtscheue Geselle direkt auf der Wolldecke auf meinem Schoß. Instiktiv griff er sich einen Zipfel und versteckte sich darunter. Er erstarrte vor Schreck. Überall war Licht! Und verbuddeln konnte er sich auch nicht. Zudem war es ihm plötzlich in seinem seidenweichen Fell sehr, sehr warm.

Die Amseln hatten sich derweil aufgerappelt und waren schimpfend in die Bäume geflogen um Ihr Gefieder zu sortieren. Üblicherweise schlagen Amseln nur selten Purzelbäume. An diesem Tag war alles irgendwie anders.

Ich selbst hatte erschrocken die Hände hoch gerissen, als die schwarze Pelzkugel auf mich zuflog und dabei auch etwas Tee verschüttet. Vorsichtig stellte ich den Becher neben mich auf die Bank. Alles war so schnell gegangen – was um Himmels Willen versteckte sich da unter dem Zipfel meiner Decke? Nach einem unendlich scheinenden Moment der Unbeweglichkeit erschien unter der Kante des Deckenzipfels eine kleine, rosafarbene Nase. Vorsichtig schnupperte sie in alle Richtungen um zwischendurch immer wieder unter der Decke zu verschwinden. Mehr und mehr bewegte sich der Maulwurf. Mal sah man eins der winzigen Ohren, dann lugte das Stummelschwänzchen hervor und mit einem Male nach einer letzten Drehung zeigte sich erst die Nase, dann der schwarze, flauschige Kopf und die mächtigen Pranken.

„Na, wer bist Du  denn?“ flüsterte ich leise, mehr zu mir selbst als zu dem Maulwurf. Der Maulwurf drehte seinen Kopf und schaute mir direkt ins Gesicht. Nach einem langen, unbeweglichen Schweigen sagte er schließlich: „Na, das ist mal wieder typisch Mensch. Alles glaubt ihr zu wissen, aber Du weißt nicht mal, wer ich bin? Ich bin Franz!“. Dann fing er wieder an zu schnuppern und versuchte sich, durch die Decke zu graben. Ich selbst war sprachlos… ein Tier, was mit mir spricht! Er verstand, was ich sagte! Wie unglaublich und wie wunderbar… ich hatte 1000 Fragen!

„Franz!“ rief ich aufgeregt, „Franz, ich hab soooo viele Fragen, zum Beispiel wüsste ich gern…“- „Halt! Stop!“ rief Franz, der schon ahnte, was jetzt kommen würde. „Nichts, gar nichts werde ich Dir erzählen. Je mehr Ihr Menschen wisst, desto mehr Unheil richtet ihr an!“ Und er fing an, mir aus aller Welt zu berichten, wie die Menschen der Natur Unrecht tun – wie konnte das sein? Er kam doch kaum raus aus dem kleinen Garten? Nachdem er fertig erzählt hatte, was er alles über uns Menschen wusste – und das war ganz schön viel und dauerte ziemlich lange- war Franz erschöpft. Zudem war ihm einfach zu warm. „Ich habe eine einzige Frage“, sagte er schließlich. „Wo ist die Erde? Wo ist mein Zuhause? Irgendwas hat mich durch die Luft gewirbelt und ich weiß nicht, wo ich bin…“ Der arme Kerl hatte durch den Schreck und den Wirbel durch die Luft völlig die Orientierung verloren und die Umgebung einer warmen Wolldecke war ihm völlig fremd – er hatte ja seinen Pelz und brauchte keine warmen Decken. Maulwürfe waren normalerweise die Ruhe selbst, aber Franz wurde in der fremden Umgebung langsam unruhig. Zudem hatte er immer noch Hunger und brauchte dringend einen Wurmeintopf oder eine leckere Käferspeise.

Es wäre ein Leichtes für mich gewesen, ihn einfach wieder auf die Erde zu setzen. Schließlich war sein Zuhause keinen Meter weit entfernt. Ich war traurig bei dem Gedanken, dass die wundersame Begegnung nun vorbei sein sollte und nicht eine meiner Fragen war beantwortet. Daher schlug ich ihm vor: „Beantworte Du mir EINE Frage und ich beantworte Deine Frage. Ich verspreche Dir, Du bist schnell wieder zuhause…“ Franz überlegte. Er wollte den Menschen keine Informationen preisgeben. Je weniger sie wissen, desto besser – das war in Maulwurfkreisen allgemein bekannt. Andererseits war er so müde, hungrig und wollte nach Hause. Ich bemerkte seinen Konflikt und hatte ein schlechtes Gewissen. Seine Notlage so auszunutzen war sonst nicht meine Art und ich schämte mich. „Franz, vergiß es ganz schnell“ beeilte ich mich zu sagen. Ich verstehe Dich. Ich setze Dich jetzt vorsichtig vor Deinem Zuhause ab und Du musst mir keine Frage beantworten. Franz war erleichtert. Ich nahm ihn behutsam aus der Wolldecke und genoß den Moment, sein weiches, samtiges Fell berühren zu dürfen. Dann setzte ich ihn vor dem Loch im Boden ab, aus dem die Amseln ihn ans Licht katapultiert hatten und er verschwand sofort in der Dunkelheit.

 

Ich schaute noch eine Weile und zwickte mich ab und zu, ob ich das vielleicht doch nicht nur geträumt hatte. Ich drehte mich um und wollte gerade gehen, da rief es hinter mir: „Hey, Mensch!“ – Ich blickte zurück. Da saß ein nachdenklicher Franz: „Welche Frage wäre es denn gewesen?“ – Ich zauderte. Meine Frage war reine Neugier und im Grunde ging es mich gar nichts an. „Nun? Ich warte!“ sagte Franz. „Ich wüsste gern, wie ein Maulwurf Weihnachten feiert!“. Franz schaute verblüfft. Damit hatte er nicht gerechnet. Er hatte erwartet, dass ich nach einem vergrabenen Schatz fragen würde oder wo man das reinste Brunnenwasser finden kann. Er beantwortete meine Frage nicht. „Ich überlege es mir“ sagte Franz „In ein paar Tagen komme ich wieder und teile Dir meine Entscheidung mit“ Dann verschwand er endgültig in seinem Labyrinth aus Gängen.

Unter Beobachtung

Es waren einige Tage vergangen. Der erste Schnee war gefallen und alles war in eine kalte, weiße Pulverschicht gehüllt. Bei jedem Windhauch wirbelte etwas vom Schnee auf. Es war unglaublich leise, denn der Schnee dämpfte jedes Geräusch und die  Amseln hatten keine Lust mehr zu schimpfen. Längst trugen sie ihre leuchtend bunten Schals, was zu dem dunklen Gefieder besonders hübsch aussieht. Einige hatten auch passende Mützen dazu auf. Ein fröhlicher Anblick, trotz der Kälte.

 

Ich war in den Garten gegangen um die gefiederten Freunde wie jeden Tag mit einigen Körnern, Flocken, Nüssen und Samen zu versorgen. Wie immer hatten die Vögel ein heilloses Chaos angerichtet. Jeder wollte in den Futtermischungen seine Lieblingskörner finden und auf der Suche danach flog alles andere aus den Schüsseln. Ich fegte das Chaos zusammen und warf die restlichen Körner auf den Schnee im Beet. Dort konnten sie noch anderen Bewohnern des Gartens als Futterquelle dienen. Die Schüsseln tauschte ich gegen saubere aus und füllte sie zur Hälfte. Erdnussbröckchen in die eine, Fettfutter in die andere, gemischte Körner in die dritte Schüssel. Ich freute mich schon auf das Spektakel, welches entstehen würde, sobald ich einige Meter von dem Vogelhaus entfernt wäre. Ich fegte ein Stück der alten Gartenbank frei und setzte mich.

Längst trugen die Amseln ihre bunten Schals und Mützen

 

Als erstes kamen – wie sollte es auch anders sein – die Meisen. Sie lieben Körner und Sämereien und für Sie war es ein tägliches Festmahl. Zwischendurch ließen sich die scheuen Spatzen blicken, Amseln, Tauben, Rotkehlchen und sogar der Specht- alle kamen vorbei, um sich an der gedeckten Tafel zu bedienen. Ein fröhliches, friedliches und abwechselungsreiches Treiben. Langsam kroch die Kälte in meine Kleidung, es wurde Zeit, zurück ins Haus zu gehen. Dort wartete ein prasselndes Kaminfeuer, ein gutes Buch und eine warme Wolldecke auf mich. Kurz dachte ich an Franz. Ob es ihm wohl gut geht, da irgendwo unter der Erde? Wurde es ihm nicht kalt unter dem Schnee? Ich beugte mich über den Hügel, an dem ich ihn vor ein paar Tagen abgesetzt hatte. Nichts zu sehen. PATSCH! – da traf mich etwas an der Stirn. Und PATSCH! – schon wieder, dieses mal direkt neben der Nase… ein leises, aber kräftiges Lachen ertönte. Franz hatte auf den Moment gewartet um mich mit winzigen Schneebällen abzuwerfen. Er konnte zwar nichts sehen, aber meinen dunklen Schatten über seinem Bau, den konnte er erkennen. Und Maulwürfe sind mit ihren kräftigen Pranken ganz hervorragende Schneeballbauer.
„Ich habe mit meinen Freunden gesprochen und dich in den letzten Tagen genau beobachtet. Ich habe Erkundigungen über dich eingeholt. Du scheinst – dafür, dass du ein Mensch bist, gar nicht so übel zu sein. 42 3 36 hat berichtet, dass du kein Wildkraut vergiftest, so dass wir unsere Käfer, Würmer und Engerlinge mit gutem Gewissen verspeisen können. und 27 4 86 hat berichtet, dass du nie Müll aus dem Autofenster wirfst. 13 4 20 hat dich gesehen, wie Du einem kranken Igel geholfen hast, zu überwintern.“ – Ich war erstaunt. „Die wohnen alle hier in unserem kleinen Garten?“ – Franz konnte es nicht fassen: „Nein, selbstverständlich nicht! Das Gelände wäre doch viel zu klein und selbst ich muss noch bei den Nachbarn weitergraben. Ihr habt ja wirklich von nichts eine Ahnung!“ Und mit einem Kopfschütteln ergänzte er: 42 3 36 wohnt 27 Grabelängen Nordnordost, 27 4 86 fünfzehn Grabelängen auf 12 Uhr und 13 4 20 wohnt ganz woanders, noch viel weiter weg.“ Ich kam mir dumm und unwissend vor. Trotzdem konnte ich mir nicht verkneifen, zu fragen: „Woher weißt du das dann alles? Wie tauscht ihr Euch aus? Du kannst sie unmöglich alle besucht haben.“ Franz seufzte. Er fragte sich wohl, ob seine Geduld groß genug sein würde, um mir Menschen alles zu erklären und ob die Fragen jemals enden würden. Worauf hatte er sich da eingelassen. Nach einigen Minuten tiefer Seufzer, Kopf hin- und her wiegen und nachdenklicher Miene entschied sich Franz für einen Erklärungsversuch.

„Du weißt, was Schachtelhalm ist?“ Ha, nun konnte ich Punkten! Klar, Schachtelhalm kennt man! Ein wucherndes Gewächs, Mill-iii-oooonen von Jahren alt, was man früher zum Zinn putzen benutzte und deshalb auch Zinnkraut genannt wird. Andere sagen auch ‚Kattensteerte‘ (Plattdeutsch für Katzenschwänze) dazu, weil es aussieht, wie der gerade hochgereckte Schwanz einer Katze, die sich erschrocken hat. Überall im Garten wächst Schachtelhalm. Ich hielt einen ausführlichen Vortrag über Schachtelhalme: Sumpf, Garten- und Ackerschachtelhalme.  Franz folgte meinen Ausführungen nickend. „Was du nicht weißt: Schachtelhalm hat ein unendlich riesiges Wurzelwerk. Oben, das was Du siehst, ist nur die Antenne. Unterirdisch ist das Gewächs ungleich größer. Es geht Metertief in die Erde. Eigentlich wollte ich dir ein wenig davon zeigen, aber jetzt haben wir uns verquatscht und die Zeit reicht nicht mehr. Aber ich verspreche dir jetzt, dass du erfährst, wie wir Maulwürfe Weihnachten feiern und was das mit dem Schachtelhalm zu tun hat. Wir sehen uns wieder, in ein paar Tagen. Bis bald!“

 

Franz verschwand und ließ mich ratlos zurück. Antenne? Was meint er nur damit? Ich war verwirrt. Als ob er es geahnt hätte, kehrte Franz noch einmal zurück: „Ich muss noch etwas besorgen und hole dich am 16., sobald das Frühkonzert der Flatterhaften beendet ist, hier an meinem Eingang ab. Sei pünktlich, damit wir genug Zeit haben. Und besorg dir eine Taschenlampe, ihr Menschen riecht ja nicht so präzise und hören könnt ihr auch nicht gut. Also, bis morgen!“ Und Franz verschwand erneut.

Die Schrumpfung

Es war kalt, ich war viel zu früh da und nervös trat ich von einem Fuß auf den anderen. Heute war der Tag, an dem Franz mir erzählen wollte, wie Maulwürfe Weihnachten feiern. Inzwischen hatte ich mir längst hundert verschiedene Varianten überlegt und wieder verworfen – und ich musste zugeben – ich wußte gar nichts von dieser mir verborgenen Welt unter der Grasnarbe.

Ich ging auf und ab, hin und her , blieb stehen, bückte mich um den Maulwurfshügel anzustarren und begann das Spiel von vorn. Auf, ab, hin, her. Schließlich gab ich auf und setzte mich wieder auf meinen bekannten Platz auf der alten Bank. Es dauerte noch eine Weile, und dann kam mit gehöriger Verspätung endlich Franz. „Das wurde aber auch Zeit“ grinste er. „Ich dachte schon, Du beruhigst Dich nie. Mit deinem hin- und her- Getrappel machst Du mir ja die Würmer scheu… “ Er war die ganze Zeit schon da gewesen und hatte mich bewußt warten lassen.

Franz begann, mit den Armen zu rotieren, sich zu recken und zu strecken und ein komplettes Aufwärmprogramm für Frühsport hinzulegen. Ich war enttäuscht. Versuchte er, die Antwort zu verzögern um dann wieder unvermittelt abzutauchen in den Untergrund? Franz muss es mir angesehen haben, was ich dachte und fühlte, denn sein Grinsen wurde noch breiter. Dann sagte er: „Setz Dich mal hier herunter zu mir auf die Erde. Du bist mir zu weit oben auf Deiner Bank.“ Ich setzte mich auf die kalte, feuchte Erde. „Bist Du bereit für ein Abenteuer? Hast Du Mut? Übernimmst Du Verantwortung für Dich selbst und gelobst, Dich ruhig, friedlich  und besonnen zu verhalten, niemanden zu verletzen oder zu beleidigen, jedwedem Lebewesen mit Respekt zu begegnen und alles zu tun, um den Lebensraum, den Du jetzt kennenlernen wirst zu schützen und zu erhalten? Bist Du bereit, dein Bewußtsein zu entwickeln und danach zu handeln? Kurz: Willst Du Wissen, Erkenntnis und eine neue Perspektive annehmen?“

 Was für eine Ansprache! Ich wollte doch nur wissen, wie Maulwürfe Weihnachten feiern. „Nun?“ Franz wurde ungeduldig, aber ich wollte mich nicht drängen lassen. „Moment bitte. Das klingt nach viel Verantwortung, da werde ich mir mit der Beanwortung doch wohl angemessen Zeit lassen können. Es scheint ja um etwas Wichtiges zu gehen.“ Franz nickte. „Du hast Recht. Die Entscheidung will wohl überlegt sein. Aber überlege nicht zu lange, sonst wird die Zeit zu knapp.“ – Die Zeit zu knapp? Wofür? Es war früh morgens und es ging nur um eine Geschichte… ach würde dieser Maulwurf doch nicht ständig in Rätseln sprechen! „Ja, ich bin einverstanden“ sagte ich schließlich. „Fein“ sagte Franz. „Dann war meine Arbeit ja nicht umsonst. Ich habe einige Nächte durchgegraben, um eine für Dich passende Menge Grundsalz zu besorgen. Hier ein Korn und da ein Korn – es war sehr mühsam. Wie Du weißt, bestehen Menschen zum großen Teil aus Wasser. Ich werde Dich gleich mit Grundsalz bewerfen, das wird Dir das Wasser entziehen und speichern. Du wirst schrumpfen und so klein werden, dass Du in deinem eigenen Schuh schlafen kannst. Bereit?“ – noch bevor ich irgendetwas sagen konnte, hatte Franz mit einem kräftigen Wurf seiner riesen Pranken das Salz in hohem Bogen über mich geworfen. Um mich herum entstand blitzschnell ein klarer Pudding, erst bis zum Knie, dann bis zur Hüfte, bis zu den Ohren… ich versank völlig in dem Pudding… Hilfe, ich bekam keine Luft mehr… !!! Franz…!

Eine riesige Pranke holte mich vorsichtig aus klaren, glibberigen Masse. Es war Franz, aber Franz war riesig und furchteinflößend. Seine Krallen waren lang wie Säbel! Mein Herz konnte sich nicht entscheiden, ob es wie wild klopfen oder doch lieber einfach stehen bleiben sollte vor Schreck. Ich holte tief Luft… ich hatte Panik und wollte flüchten, aber ich wußte nicht wohin. Ich schaute wild um mich… „Hmmm…“ sagte Franz in der mir vertrauten ruhigen Stimme „Bitteschön. Hier ist schon Deine erste neue Erfahrung. Du erlebst, was es bedeutet, sehr klein zu sein und Du erlebst, was es bedeutet, vertrauen zu müssen.“

Mein Herz hatte sich für das Klopfen entschieden, weil stehen bleiben einfach ungünstig ist. Mit Franzens Worten wurde auch das Klopfen ruhiger und die erste Panik verschwand langsam. Franz saß einfach ruhig da und wartete. Er ließ mir Zeit. Zeit um mich zu beruhigen und meine verquirlten Gedanken zu sortieren. Noch etwas zittrig auf den Beinen versuchte ich, mit der neuen Situation klar zu kommen. „Du warst Dir Deiner mächtigen Position gar nicht so bewußt, oder?“ sagte Franz „Erst jetzt, wo Du es anders erlebst, fällt es Dir auf. Für Tiere ist es schwer, Menschen zu vertrauen. Und für die ganz kleinen schon mal sowieso. Aber nun musst Du mal mir vertrauen, was bleibt Dir auch anderes übrig.“ Franz lachte. “ Und jetzt sei willkommen in meiner Welt. Lass uns gehen, sonst erfährst Du nichts vom Weihnachten der Maulwürfe. Bleib dicht bei mir. Hier fahren zwar keine Autos, aber auch hier gibt es Gefahren.“ Und Franz verschwand in seinem Maulwurfshügel, der mir jetzt schon eher wie ein Berg vorkam.

In was für eine Situation hatte ich mich da gebracht? Ich könnte zuhause warm und sicher bei Kirschwurzeltee und Weihnachtsplätzchen  sitzen! Statt dessen kämpfte ich mich einen Erdhügel hoch um im Anschluß in ein dunkles Loch hinabzusteigen. Ich musste verrückt sein! – Andererseits: Hatte ich je jemandem von einem solch grandiosen Abenteuer erzählen hören? Ich hatte die Chance, etwas ganz Außergewöhnliches zu erleben! Der Gedanke beflügelte mich und die Angst wurde von Vorfreude verdrängt. „Komm endlich!“ tönte es aus dem Gang. Also hinein in die Dunkelheit!

 
 

Der Festsaal und die Rückkehr

Nach dem Einstieg in Franzens Gewölbe umfing mich tiefste Finsternis. Zum Glück hatte ich meine Taschenlampe dabei und konnte mich so einigermaßen orientieren. Obwohl die braune Erde und das schwarze Fell von Franz fast alles Licht absorbierten. Aber ich hörte Franz atmen. Ich stapfte eine ganze Weile hinter Franz her und schließlich kamen wir an einem größeren Raum an. Er war angefüllt mit Heu. Hier binde ich die Duftketten für die Adventszeit. Sie werden überall in den Gängen aufgehängt. Immer erst einen langen Halm, dann einige getrocknete Kräuter, dann wieder ein Halm.

Wenn ich sie aufhänge und durch die Gänge gehe, riecht es abwechselnd nach Lavendel, wildem Dost, Rosmarin, Gänseblümchen, Flieder, Fingerhut, Schafgarbe, Margaritte, Kornblume, Veilchen. Jeder Maulwurf bindet die Duftketten nach der Tradition seiner Familie. An der Reihenfolge der Blüten kann man erkennen, von welchem Maulwurf die Kette gebunden wurde. Es ist eine hohe Kunst, damit sich nicht zwei Gerüche vermischen, die nicht zueinander passen. Auch die Abstände müssen stimmen. Vor allem Lavendel braucht großen Abstand, er ist sehr intensiv. Veilchen brauchen kaum Abstand. Ihren zarten Duft können manche gar nicht wahrnehmen. 

Am 6. Dezember werden die Nachbar- Maulwürfe bedacht: Je nach dem, ob sie gute Nachbarn waren, dein Revier respektiert  und Dir genug Käfer gelassen haben oder ob sie frech an der Grenze gewildert und Deine Tunnel angegraben haben versteckt man in Ihren Gängen besondere „Duftnoten“. Liebe Nachbarn bekommen erfrischende Minze, Walderdbeerblüten  oder Waldmeister, die Dreisten bekommen Lilienstempel. Lilien sind wunderschön, aber der Duft ist eine Katastrophe! Natürlich versucht man sich gut zu benehmen und mit den Nachbarn zurecht zu kommen, denn kein Maulwurf sammelt gern Lilienstempel. Den Geruch bekommt man gar nicht von den Pfoten. Nun ja, bei dieser kleinen Ermahnung bleibt es dann auch meist, und die bösen Buben haben die Gelegenheit, bis Weihnachten den Mief aus ihren Gängen zu bekommen.

So, nun lass uns mal weiter. Du weißt ja, wir Maulwürfe sind im allgemeinen Einzelgänger und genießen unsere Ruhe. Während wir buddeln, haben wir viel Zeit zum denken, denn nichts lenkt uns ab oder erfordert unsere Aufmerksamkeit. Wir buddeln und denken. Und natürlich tauschen wir uns über unsere Gedanken und Erfahrungen aus. Komm mit in den Netzraum! Ein wichtiger Teil der Maulwurfsgemeinschaft, er war schon immer da.

 

Im Netzraum hingen unendlich viele Wurzeln von der Gewölbedecke. Die dickeren Wurzeln hatten einen Knoten. „Das ist unser Zwischennetz. Wir sind hier sehr Stolz auf unser supereffektives Netzwerk, denn wir können auf Schachtelhalm zurückgreifen. Schachtelhalm ist bis 6 Meter Tiefe erreichbar und seit Millionen von Jahren etabliert. Ziemlich robust. Zudem hat es Antennen nach oben, mit denen wir sehr weit in die Luft hören können. Wir sind über ALLES informiert, was auf dem Planeten 6 Meter unter oder über dem Schachtelhalm passiert. Andere Maulwürfe müssen mit Gierschwerk vorlieb nehmen, das vergrößert sich zwar schneller in die Breite, reicht aber nicht ganz so tief. Die Blätter übertragen den Luftschall auch nicht so präzise wie Schachtelhalm. Man hört daher nur dumpf oder abgehackt. Es geht nichts über Schachtelhalm!

Im Frühjahr, wenn der Schachtelhalm blüht, schleichen sich pfiffige Maulwürfe nachts aus dem Bau und pusten die Sporen des Schachtelhalms soweit sie können in die Landschaft um Ihr Netz zu erweitern. Ich muss das nicht mehr, mein Netz ist gut ausgewachsen.“ Franz griff sich zwei kleinere Knoten und steckte sie sich in die Ohren, einen größeren Knoten hielt er sich vor den Mund und schnalzte, schmatzte und knackte hinein. Er lauschte und lachte… dann schmatzte und schnalzte er wieder, während ich ungläubig daneben saß. So ging das eine ganze Weile und mir wurde langsam kalt.

„Du frierst“ stellte Franz fest. Mittlerweile fragte ich nicht mehr- ich wusste, er hatte das Klappern meiner Zähne gehört. Meine Kleidung konnte mit seinem dichten Maulwurfspelz nicht mithalten. „Dann lass uns mal zum großen Festsaal herunter steigen, dort ist es wärmer. Er wird mit Erdwärme beheizt. Zu Weihnachten, wenn es knackig kalt ist, ist das sehr angenehm. Ich habe den anderen gerade gesagt, dass Du kommst, sie sind vorbereitet.“ Franz ging zu einem steil herabfallenden Gang. „Hmmm. Das wirst Du mit Deinen einfachen Händen nicht hinbekommen. Wir müssen eine Weile durch den Gang rutschen und dabei mit den Pranken bremsen. Wir kommen nur da runter, wenn Du Dich auf meinen Bauch legst und an mir festhältst. Du darfst auf keinen Fall loslassen, sonst stürzt Du ab und purzelst viel zu tief runter. Schaffst Du das?“ Ein warmer Luftzug kam mir aus der steilen Röhre entgegen. Das letzte Mal, als ich Franz berührt hatte, war er klein und ich groß. Nun war es umgekehrt. Damals war es für mich völlig klar, dass Franz kein Leid geschehen sollte. Nun war es wohl umgekehrt. Franz würde mich nicht gefährden, darauf konnte ich mich verlassen.

 Langsam ging ich näher und schmiegte mich in dieses unglaublich weiche, feine Fell. Sofort wurde mir wieder warm, es war unglaublich. Ich fühlte mich wunderbar wohl und genoß diesen kuscheligen Moment. „Kann es losgehen?“ fragte Franz.  „Ja, es kann losgehen…“ Und schon begann die wilde Rutscherei wie eine Achterbahnfahrt unter die Erde. Nach einigen Minuten bremste Franz scharf mit allen Krallen und katapultierte uns mit Schwung in den großen Festsaal. Wir landeten auf einem weichen Moospolster, der die anfliegenden Maulwürfe hier weich und sicher landen ließ und purzelten über einander her… dann lachten wir beide. Das war aufregend gewesen und ein riesen Spaß! Franz reichte mir meine Taschenlampe, die ich verloren hatte, aber meine Augen gewöhnten sich langsam an die Dunkelheit und ich konnte auch so schon viel erkennen. Also ließ ich die Lampe aus, auch um die anderen Maulwürfe nicht zu blenden. Der Festsaal war einfach nur eine große, dunkle Höhle. „Ist das nicht wunderbar?“ rief Franz. Er strahlte übers ganze Gesicht und seine Pranken wedelten vor Aufregung hin und her. „Jaaaa…- ähmmm. Doch… “ ich wollte höflich sein, war aber etwas ratlos.

 Zum Glück merkte Franz in seiner Begeisterung meine Enttäuschung nicht. Er hüpfte am Rand der Höhle entlang und erklärte: Fühl mal, das hier ist feinster Sand…  und hier, ein Stück weiter: Waldboden, riechst du diesen wunderbaren Duft? Und hier… Mutterboden vom Feinsten! Rote Erde aus Spanien! Sand aus der Sahara! Gesteinsmehl aus den Alpen! Und hier: Torfboden! Franz fühlte und schnupperte. Der ganze Festsaal war in unendlich viele Bereiche unterschiedlicher Böden unterteilt. „Das ist wie ein großer Kessel unterschiedlichster Erdsorten. Und alles ohne Steine! Zu Weihnachten verstecken wir darin Blüten und Leckereien wie Käferlarven und Würmer und wenn wir dann alle zusammen kommen, kann jeder in seinem Lieblingsbereich nach Herzenslust graben und schmausen. Jeder kann mal in einer Erde wühlen, die er sonst vielleicht nicht hat, kann neue Erfahrungen sammeln und neue Wurmsorten probieren. Würmer schmecken natürlich immer nach dem, was sie so fressen und hier trägt jeder die Spezialitäten aus seinem Gebiet zusammen. Ich zum Beispiel hole immer Kompostwürmer von Müllers Kompost. Da ist fast nur Kaffeepulver drin. Von den Würmern darf man allerdings nicht zu viele Essen, sonst kann man 3 Tage nicht schlafen. Rudi bringt immer Erdbeerwürmer mit und die Nusslaubwürmer von Marianne sind eine Delikatesse! Ganz beliebt und vitaminreich sind auch die Apfelwürmer.“

Franz lief das Wasser im Munde zusammen, wenn er an Weihnachten dachte und seine Nase schnupperte schon jetzt in Vorfreude auf die Gerüche der Erden und der versteckten Kräuter. „Da du Weihnachten zuhause feierst, darfst du ausnahmsweise jetzt schon mal etwas buddeln. Probiere es mal aus“ Ich erfühlte die verschiedenen Erden und sie waren wirklich völlig unterschiedlich. Einige waren faserig, andere klebrig, wieder andere fein wie Staub. „Möchtest Du einen Nusslaubwurm probieren?“ fragte Franz? Ich schüttelte heftig den Kopf. „Du verpasst etwas. Aber gut. Wenn wir dann alle satt und müde sind, gehen wir in die Netzzentralen und schicken unseren Lieben, die weiter weg wohnen, kleine Melodien und friedliche Klänge um Weihnachten liebevoll ausklingen zu lassen. 3 27 18 ist mein Bruder Fritz, 7 88 12 meine Schwester Grete.“ Während seiner Ausführungen tippte ihm Rudi, einer der anderen Maulwürfe, auf die Schulter. „Es wird Zeit…“

„Oh,ja, wir müssen los, es  wird höchste Zeit. Du bist auch schon wieder einen Millimeter gewachsen, das kommt von der feuchten Erde… bald passt Du nicht mehr durch die Gänge. Wir nehmen den Aufzug!“ Franz ging zu einem senkrechten Loch mit einer quer liegenden Wurzel. „Halt Dich wieder an mir fest, so fest Du kannst!“ Franz stand auf der Wurzel und schob uns Stück für Stück immer weiter nach unten. Die Wurzel bog  und dehnte sich. Als Franz nicht mehr weiter nach unten kam, ließ er abrupt los und wir wurden in irrwitziger Geschwindigkeit nach oben katapultiert. Oben angekommen machte Franz eine Rolle vorwärts und wir landeten sicher seitlich des Aufzugschachtes. Langsam wurde mir klar, dass viele Erfindungen der Menschen vielleicht doch nicht als erstes von den Menschen erfunden wurden. „Du kannst jetzt loslassen“ sagte Franz „Wir müssen uns beeilen“. Nach wenigen Gängen,  vier mal links, zwei mal rechts, drei mal geradeaus – waren wir am Ausgang.

 Franz umarmte mich noch einmal. „So, du Mensch. Nun weißt du, wie wir Weihnachten feiern und sogar etwas mehr. Ich hoffe, du erweist Dich der Erkenntnisse würdig. Ich wünsche dir ein wundervolles Weihnachtsfest, dass du wirklich mit allen Sinnen genießen kannst.“ Er gab mir noch einen feuchten Maulwurfkuss auf die Wange, und schubste mich mit Schwung wieder in meinen Pudding. Kaum war ich darin, wuchs ich wieder zu meiner ursprünglichen Größe – na, vielleicht auch einen Millimeter mehr. Maulwürfe lieben kurze Verabschiedungen. Franz winkte kurz und verschwand in seinem Bau. Ich war noch ganz verzaubert und hatte jetzt viel zu tun. Schließlich galt es, meine Welt mit allen Sinnen neu zu erleben, zu genießen und zu gestalten. Und wenn ich mich selbst daran erinnern will, dann schließe ich die Augen und flüstere

 „Frohe Weihnachten, Franz!“

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